
Es war Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. In dieser Zeit arbeitete ich auf der Krebsstation eines Krankenhauses. Viel habe ich gelernt in dieser Zeit. Viel über Menschen. Wie sie leben, lebten. Wie sie starben.
Mit dem gesamten Leben dieser Patienten wurde ich – damals 18 Jahre alt – konfrontiert. Da war der Patient, der mir erzählte, dass es völlig klar sei, dass er Magenprobleme habe – schließlich hatte er das Kühlwasser der Panzer in der Wüste getrunken. Der Mann, der im Sterben Angst vor den Russen hatte, die er – im Delirium – nicht weit weg zu sein wähnte und bei dem ich im Rahmen der Morgentoilette die tätowierte Blutgruppe am Oberarm sah.
Ich habe gelernt, dass Menschen oft sterben, wie sie gelebt haben. Viele unschöne Erinnerungen, bei denen ich als Praktikant im Sterbezimmer war, während die Angehörigen vor der Tür gestritten haben.
Und dann war da dieser besondere Patient. Seinen Namen habe ich vergessen. Er war einer von jenen, bei denen alles stimmte – jedenfalls so, wie ich es wahrgenommen hatte. Die Familie war bei ihm so oft es irgendwie ging. Sein Sohn half ihm in den Rollstuhl wenn es einmal ein schlechter Tag war. „Komm Papa – ich helf’ dir“ höre ich ihn sagen während er seinen todkranken Vater in den Rollstuhl geleitete. Er war unheilbar krank und sein Tod war keine Frage von Monaten mehr, aber für mich schien es, als würde er mit einem leisen und feinen Lächeln diese Phase seines Lebens erleben. Er erzählte mir vom Winter 1929, in dem er als Holzfäller gearbeitet hatte und der wohl sehr kalt gewesen war.
Der Krebs hatte Metastasen in seinem ganzen Körper gestreut und die Wucherungen in seinem Gehirn lösten zeitweilige Lähmungserscheinungen aus. Oft konnte er seine rechte Körperhälfte nicht kontrollieren. Zu dieser Zeit pflegte ich das Laster des Rauchens und so stand ich bisweilen rauchend mit dem Patienten auf dem Balkon. Einem endständigen Lungenkrebspatienten mit globalen Metastasen das Rauchen zu verleiden erschien mir und vielen meiner Kollegen widersinnig.
Weihnachten 1985 durfte er zu seiner Familie nach Hause. Jeder wusste, dass es sein letztes Weihnachten sein würde – er auch. Zu meiner Verwunderung war die Stimmung nicht bedrückt sondern irgendwie gelöst und – mir fehlen hierzu irgendwie die Worte – auf eine ganz eigene Art fröhlich.
Er begegnete mir auf dem Klinikflur. Es war ein guter Tag an dem er – gestützt auf eine Krücke – gehen konnte. Ich hatte einen Kloß im Hals als ich ihm frohe Weihnachten mit seiner Familie wünschte. Er sah mich an und sagte „willst du mir nicht die Hand geben?“ Ich hatte bewusst darauf verzichtet ihm die Hand zu reichen, da ich wusste, daß die Metastasen im Gehirn zeitweilig für eine Lähmung des rechten Arms verantwortlich waren. Er stand vor mir und zitternd und unter erkennbarer Anstrengung hob er seine rechte Hand, die ich ergriff und schüttelte.
Seine Frau trat an mich heran und überreichte mir ein Weihnachtsgeschenk- ein Einstecktuch aus einem weißen, sehr feinen Stoff.
Wenige Tage danach, zwischen Weihnachten und Neujahr ist er gestorben.
Oft habe ich dieses wundervolle Einstecktuch in den letzten 30 Jahren gefaltet und zu besonderen Anlässen als Einstecktuch getragen. Immer in Erinnerung an diesen besonderen Menschen, den ich nie vergessen werde.